Wie viel Gramm darf Trauer wiegen?

 
Julia Berger aus Auma arbeitet mit Müttern, die ihr Kind in der Schwangerschaft verloren haben

 

Julia Berger bezeichnet sich selbst als Expertin für Verluste in der Schwangerschaft. In ihrer Praxis in Auma will sie der Trauer der Frauen mit Gesprächen, praktischen Übungen und Meditation Raum verschaffen. Foto: Norman Börner
 

Auma-Weidatal. Lange Zeit habe es gedauert, bis sie es wirklich verarbeitet hatte, sagt Julia Berger. Jahre in denen sie nach ­Wegen suchte, den Tod zweier Menschen zu begreifen, die nie einen Kubikmillimeter Atemluft in die kleinen Lungen saugten. Zwei Kinder verlor sie während der Schwangerschaft, bevor ein Sohn und eine Tochter gesund zur Welt kamen. Heute sagt sie: „Ich bin Mutter von vier ­Kindern“ – und will Müttern mit demselben Schicksal in ihrer Trauer begleiten.

Im Jahr 2017 gab es laut dem Thüringer Landesamt für Statistik 59 Totgeborene im Freistaat – bei über 18.000 Lebendgeborenen. Im Landkreis Greiz kamen im selben Zeitraum zwei totgeborene Kinder auf 673 lebendige. Das klingt erst mal nicht nach viel. Doch die Statistik erfasst nur Kinder, die nach der Trennung vom Mutterleib mindestens 500 Gramm wiegen.

 

Nachholbedarf im Umgang mit dem Thema

Für Julia Berger zählt diese Grenze nicht. „Mutter ist eine Frau ab dem Moment, wo sie schwanger ist“, sagt die Aumaer Ergotherapeutin, die aber auch mit Müttern arbeitet, die ihre Kinder in der Schwangerschaft verloren haben. Und Trauer befalle die meisten Frauen, egal in welchem Stadium der Schwangerschaft sie der Verlust trifft – und manche bewege das Thema sogar noch Jahrzehnte später.

 

„Ich kannte eine 90-Jährige Frau im Pflegeheim, die der plötzliche Verlust ihres ungeborenen Kindes bis heute beschäftigt“, sagt Berger. Denn sie sei zu einer Zeit geboren, in der der Mantel des Schweigens noch fest zugeknöpft wurde, wenn ein Kind tot geboren wurde. Aus Angst vor dem Stigma der Gesellschaft – „Die kann keine gesunden Kinder gebären“ – und eigenen Schuldgefühlen – „Habe ich nicht genug auf mich geachtet?“ – seien diese „Sternenkinder“ oft aus der Familiengeschichte gestrichen worden.

Doch auch in der neueren Zeit gäbe es trotz großer ­Fortschritte noch Nachholbedarf im Umgang mit betroffenen Müttern. Berger erinnert sich noch genau an ihre erste stille Geburt. „Ich fühlte mich im Kreißsaal mit meinem ­Emotionen alleine gelassen“, erinnert sie sich. Sie wünscht sich, dass Ärzte, Krankenpfleger und Seelsorger noch mehr geschult werden, um den Frauen zur ­Seite zu stehen.

Rechtlich hat sich im neuen Jahrtausend in Thüringen einiges getan. So gilt für alle Totgeborenen über 500 Gramm eine Bestattungspflicht. Auch Totgeborene, die weniger wiegen, dürfen von den Eltern beigesetzt werden, ansonsten muss die Klinik in einer Sammelbestattung dafür Sorge tragen. Bei Leibesfrüchten aus Schwangerschaftsabbrüchen vor der zwölften Woche können Eltern auf Wunsch eine Bestattung organisieren.

Seit 2003 gibt es auf dem städtischen Friedhof in Greiz eine Grabstätte für stillgeborene Kinder. Die Krankenhausseelsorge am Kreiskrankenhaus, ein Team der Gynäkologie des Krankenhauses sowie die Diakonie gestalten jährlich eine Trauerfeier für die totgeborenen Kinder.

Maria Felsner ist seit zehn ­Jahren Hebamme in ­Zeulenroda-Triebes. Auch sie sagt, dass sich in den letzten Jahren einiges zum Positiven verändert habe. „Der Umgang mit werdenden Müttern, die schon einmal einen Verlust in der Schwangerschaft hatten, ist im Vergleich zur der Situation von vor zehn Jahren sehr viel herz­licher. Sei es aufseiten der Ärzte oder der Pfleger“, sagt sie. Außerdem verteile das Krankenhauspersonal im Ernstfall Informationen und verweise an Stellen, die in der Nachbetreuung helfen können.

So steht auch Frauen mit einer Fehlgeburt die Nachbetreuung durch eine Hebamme zu. Die Krankenkasse trägt in diesem Fall die Kosten. Die Arbeit von Julia Berger setzt bei der Bewältigung der seelischen Narben an. „Hier geben die Kassen leider noch nichts dazu“, sagt sie.

„Ich wünsche mir eine aufgeschlossenere Trauerkultur“, sagt Berger. Die Auseinandersetzung mit den Verstorbenen und den eigenen Gefühlen weiche oft dem Prinzip Verdrängung. Erwischt es nun ein ungeborenes Leben, kämen noch weitere Zwiespältigkeiten dazu.

So komme es vor, dass es im privaten und medizinischen Umfeld Personen gibt, die den Verlust kleinreden – „Nun hab dich mal nicht so. Es hatte doch noch nicht mal einen Herzschlag“. Dass es die Möglichkeiten der Bestattung und Trauerfeiern gibt, erhöhe die Akzeptanz des Themas. Aber ihre Trauer würden manche Frauen noch immer in sich hineinfressen. Und jene Schuldgefühle, ob man sich in der Schwangerschaft vielleicht falsch verhalten habe.

Berger möchte diese Kultur des Schweigens aufbrechen. „Das Wichtigste ist erst einmal Reden. Viele Frauen sprechen mit mir zum ersten Mal über ihre Empfindungen“, sagt sie. In den Sitzungen werden aber auch ­Erinnerungsstücke gefertigt, meditiert und die eigene Körperwahrnehmung gefördert. Im Grunde ginge es darum, jenen allgegenwärtigen Zwiespalt – „Bin ich eine Mutter, die das Recht hat zu trauern?“ – aufzubrechen. Denn auch wenn die Bewältigungsstrategie von Frau zu Frau verschieden sei, gehöre die Phase des Trauerns zu jedem Verlust im Leben dazu. Und ob und wie eine Frau trauert, ließe sich nun mal nicht beschränken – nicht von noch so vielen Jahren und nicht von 500 Gramm.

Norman Börner 20.10.18
 

 

 

 

OTZ / GREIZ /20.10.2018
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